I Have No Mouth, and I Must Scream - Stiftung Digitale Spielekultur (2024)

Erinnerungskulturelle Einordnung

Veröffentlicht am:

Autor: Tim Kucharzewski

Tim Kucharzewski leitet Seminare der politischen und historischen Bildung. Er hat seine Doktorarbeit an der Universität Potsdam eingereicht. Kriege in digitalen Spielen stellen einen seiner Forschungsschwerpunkte dar.

Um die Bedeutsamkeit des Spiels verstehen zu können, hilft es den Schöpfer zu kennen: Harlan Ellisons Werke zählen zu den einflussreichsten der Popkultur. Auch all jene, denen der US-amerikanische Autor kein Begriff ist, werden mit seinen Arbeiten vertraut sein. Sie lieferten z. B. die Grundlagen für den Film „Terminator“ oder eine Episode von „Star Trek“. Sein enormes Lebenswerk umfasst einige der erfolgreichsten Kurzgeschichten aller Zeiten. Dazu zählt „I Have No Mouth, and I Must Scream“. Bereits der Titel der literarischen Grundlage mutet verstörend an und die digitale Adaption setzt dieses Gefühl von Unbehagen als Point&Click-Adventure um. Während das Spielunternehmen LucasArts mit Adventure-Spielen, wie Maniac Mansion(1987) oder Monkey Island(1990) auf augenzwinkernden Humor setzte, ist I Have No Mouth, and I Must Scream, eine Kooperation der Firmen Cyberdreams und The Dreamers Guild, ein viel düstereres Spielerlebnis. Im Setting des Spiels hat eine nahezu allmächtige künstliche Intelligenz, genannt AM („Allied Mastercomputer“), die Weltherrschaft übernommen und setzt die letzten fünf Überlebenden psychologischer und physischer Folter aus. Jeder dieser fünf Charaktere hat einen eigenen Erzählstrang. Da AM ein Zusammenschluss aus Militärcomputern der Supermächte USA, Sowjetunion und China ist, handelt es sich um eine Rahmenhandlung des Kalten Kriegs.

Erinnerungskulturelle Bedeutung

Besonders ein Erzählstrang von I Have No Mouth, and I Must Scream ist hier hervorzuheben: Die spielbare Figur Nimdok war vormals ein Nazi, der pseudowissenschaftliche Menschenexperimente während der Schoah durchgeführt hat. Diese Thematik war damals wie heute kontrovers, stellt aber fraglos eine Form von Erinnerungskultur dar. Zunächst ist die Holocaust Symbolik codiert. So zeigt das Spiel anstelle von Hakenkreuzen das Akronym AM in weißen Kreisen auf rotem Hintergründen. Ähnlich wie in der entschärften Version von Wolfenstein: The New Order(2014) wird von dem „Regime“ gesprochen. Anstelle des auserwählten Volkes, heißt es hier „verlorenes Volk“. Als wären diese Bezeichnungen nicht offensichtlich genug, werden Verweise auf reale Begebenheiten untergemischt und gegen Ende fällt der Schleier gänzlich und das jüdische Volk wie auch die Nazis werden konkret genannt. Das Jahr 1945 rahmt die Handlung zeitlich ein und Josef Mengele tritt im Spiel auf. Den Spielenden ist es möglich, Mengele durch einen Golem, die Lehmfigur aus jüdischen Legenden, töten zu lassen. Zuvor gibt es die Option, Mengele einen experimentellen Spiegel vorzuhalten, der die betrachtende Person in „perfekter Objektivität“ zeigt, und den Folterer so seine Verbrechen verstehen zu lassen. Der Schauplatz ist durch all diese Semiotik als das Vernichtungslager Auschwitz zu erkennen, nicht zuletzt durch das Krematorium. Die bildliche und textliche Darstellungen von Folter, Massengräbern und pseudowissenschaftlichen Experimenten ist oft explizit und kann trotz der veralteten Grafik verstörend wirken. Das surreale Design erinnert an expressionistische Filmsets der Weimarer Epoche.

Diskussionspunkte

Bereits vor der offiziellen Veröffentlichung von I Have No Mouth, and I Must Screamgab es Kritik an den expliziten Holocaust-Referenzen in einer der Erzähllinien. Auf diese Kritik reagierte Ellison mit der Aussage: „Der einzige Weg den Holocaust zu trivialisieren, ist ihn zu vergessen.“ Dass das Spiel in Deutschland und Frankreich ursprünglich in einer gekürzten Fassung, ohne Nationalsozialismus- und Holocaust-Inhalte, erschien, bietet Diskussionspotential bezüglich Fragen der Erinnerungskultur. Ist eine Thematisierung der Schoah unangemessen für das Medium Videospiel oder ist hingegen die Entfernung solcher Inhalte selbst ein Akt des Vergessens?

Hier findet sich der Grundstein für eine im Jahr 1995 wie auch heute noch aktuelle Diskussion: Was können, sollen und dürfen Videospiele vermitteln? Wie können digitale Spiele es schaffen, philosophische oder gesellschaftskritische Ansätze zu transportieren? Mit seinen ernsten Thematiken könnte das Spiel gar der Kategorie „Serious Games“ zugeordnet werden. Es kann als ein relativ früher Versuch gelesen werden, Unterhaltungssoftware mit seriösen Denkanstößen zu verkuppeln. Das Spiel ist sicherlich keine Simulation oder Lernsoftware. Jedoch erhebt es den Anspruch, mehr zu sein als ein eskapistischer Zeitvertreib indem es existentialistische, ethische und pseudo-theologische Fragen aufwirft, wie schon die literarische Vorlage zuvor.

Einsatzmöglichkeiten

I Have No Mouth, and I Must Scream, das einzige digitale Spiel, das offiziell mit dem Autor Harlan Ellison assoziiert sein durfte, sollte von der Konzeption an einen Lerneffekt haben, Fragen aufwerfen, unbequem sein. Auch heute, viele Jahre nach dem Ersterscheinen, bleibt das Spiel verstörend und vermag Spielende zum Denken anzuregen oder zu schockieren. Durch die gegenwärtige USK-Einstufung ab 16 Jahren eignet sich das Spiel, trotz der expliziten Inhalte, auch für die Arbeit mit jungen Erwachsenen – nicht jedoch ohne eine sensible Einordnung des Dargestellten. Zwar mutet die Grafik des Spiels heutzutage eher comicartig an, jedoch enthält das Spiel Themen, Text und Bilder, die ohne Kontextualisierung und Diskussion ungeeignet für jüngere Zielgruppen sind. Auf der Metaebene kann das Spiel selbst als integraler Teil sowohl der Videospiel-, als auch Literaturgeschichte gesehen werden. So bietet sich ein transmedialer Vergleich an. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen literarischer Vorlage und digitaler Umsetzung können hinsichtlich Erzählstruktur und Effekt herausgearbeitet werden. Der Umgang mit den Verbrechen der NS-Diktatur und verschiedene Kontroversen der Erinnerungskultur können anhand des Spiels als Fallbeispiel diskutiert werden. Hier ist zu erwähnen, dass die Nimdok-Episode über viele Jahre in der deutschen Fassung gänzlich gefehlt hat.

Weiterführendes Material

Zitierempfehlung

Kucharzewski, Tim: „I Have No Mouth, and I Must Scream“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 15.11.2021. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]

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